Realitäten und Utopien mit Judith Kohlenberger

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Wer jetzt? Demokratie im 21. Jhd.

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Judith Kohlenberger widerlegt im Gespräch mit Philipp Weritz gängige Mythen zu Migration und Integration. Was bewegt Menschen dazu, ihr Land zu verlassen? Die Kultur- und Sozialwissenschaftlerin liefert Fakten und erklärt Zusammenhänge, die nicht ersichtlich scheinen auf den ersten Blick. Lesen Sie hier zwei Stichpunkte aus dem Gespräch und hören Sie die Episode in ganzer Länger überall, wo es Podcasts gibt. „Möchten Sie in den nächsten 5 Jahren das Land verlassen?“ Migration ist keine Dynamik, die sich mit Aktion-Reaktion adäquat beschreiben lässt. Schlagwörter wie „Seenotrettung erlauben/verbieten“ oder „Hilfe vor Ort“ prägen zwar die Berichterstattung, greifen aber zu kurz, wenn es nach Judith Kohlenberger geht. Es gebe keine empirischen Beweise, dass beispielsweise die Erlaubnis von Seenotrettung eine Steigerung der Migrationszahlen hervorrufen würde. Die Wirklichkeit ist weitaus komplexer, und kein einfaches „Push-Pull“ Modell. Der aktuelle Stand der Forschung spricht vom Aspiration-Capability-Gap. Das sind einerseits klare Wünsche und Intentionen ein Land zu verlassen, oft in den ärmsten Ländern am stärksten ausgeprägt, zum Beispiel in der Subsahara Region. Eine „Aspiration“ (engl. Streben), ein Wunsch, den tatsächlich der Großteil der Bevölkerung hegt. Dem gegenüber steht jedoch die Realität der „Capabilities“, also der Fähigkeiten. Aus dieser Differenz ergibt sich der Name des Modells. „Habe ich überhaupt die Möglichkeit, das Land zu verlassen? Da spielen finanzielle Ressourcen genauso eine Rolle wie Bildung, persönlicher Horizont, Infrastruktur – gibt es überhaupt die Reisemöglichkeiten?“. Diese Einschränkungen gelten besonders in Ländern der Südhalbkugel. „Weil ihnen einfach die Ressourcen fehlen, vor allem für internationale und transkontinentale Migration über weite Strecken“. Vor allem die Corona-Pandemie habe bewiesen, dass der Kontinent mit der höchsten Mobilität der globale Norden ist: „In Europa und Nordamerika findet die meiste Mobilität statt, weil die Menschen die Ressourcen haben“. Das Einkommen hat den größten Einfluss auf die Capabilities. „Man hat den Wunsch zu emigrieren, kann es sich aber salopp gesagt nicht leisten“. Wenn schon nichts Gutes, dann etwas Neutrales Viele Methoden würden in der Politik eingesetzt, um das Streben nach Migration möglichst zu senken. „Dieses Schreckensszenario der Migration: Kann es überhaupt die Lösung oder Hoffnung sein, Migration komplett gegen null zu bringen? Das würde ich mal an sich hinterfragen. Wenn nicht positiv, dann sollte sie zumindest neutral gesehen werden. Migration ist eine Grundkonstante der menschlichen Entwicklung“. Die metaphorische Karotte vor der Nase und überschätztes Allheilmittel sei die Hilfe vor Ort: „Wir wollen die Menschen nicht herholen, aber wir schicken Hilfe vor Ort. Mittlerweile weiß man aber aus der Forschung, dass etwa Entwicklungszusammenarbeit im ersten Schritt den Migrationsdruck nicht senkt, sondern steigert“. Wie erklärt Kohlenberger dieses Phänomen? „Die Länder mit den höchsten Migrationsvolumen weltweit sind die Türkei, Marokko oder die Philippinen, also solche mit einer mittleren Einkommensschwelle. Länder mit niedrigem durchschnittlichem Einkommen haben ein relativ geringes Migrationsaufkommen, da sie keine finanziellen Ressourcen haben. Mit steigender Entwicklungszusammenarbeit steigen diese, aber nicht gleichzeitig die Lebensqualität im Land selbst“. Dadurch komme es im ersten Moment sogar zu einem Anstieg der Menschen, die es sich nun leisten können, das Land zu verlassen. Sie fügt aber auch hinzu: „Das soll kein Argument gegen Entwicklungshilfe sein, aber die Effekte auf sollen transparent kommuniziert werden“.